Die Geschichte im 17. und 20. Jh.

Die Geschichte der Familie im 17. und 20. Jh. 

Eine Griedelbacher Familie an der Wolga

In den Listen der Steueranschläge der Herrschaft Westerburg und Schadeck aus dem Jahre 1587 finden wir das erste Familienmitglied in Griedelbach. Marx Schwabach gen. Schwabecher (1587-1608), der aus Brandoberndorf nach Griedelbach eingewandert war und Sohn Johanns von Schwabach gewesen ist, hatte drei Kinder Heinrich, Catharina und Dorothea. Über die konkreten Lebensumstände und die wirtschaftliche Situation der Familie in Griedelbach ist nur wenig überliefert worden. So befinden sich im Schloss Braunfels unter anderem die Namensverzeichnisse der Bürger aus Griedelbach mit der „Spezification der Wolle, welche auf dem Leuner Wollmarkt gewogen wurde“ aus den Jahren 1706-1708, 1713, 1717, in denen Johannes Schwabach gen. Schwabecher (1643-1707) sowie sein Sohn Johann Andreas Schwabach gen. Schwabecher (1680-1753) mit ihren Abgaben verzeichnet sind.

Tanzlinde vor der Dorfkirche von Griedelbach

Doch die Überlieferungen über die allgemeinen Lebensumstände in Griedelbach und den benachbarten Gemeinden vermitteln ein eindeutiges Bild über die damalige Zeit. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) wurde das Solmser Land regelrecht verwüstet. Hunger, Pest, eine Viehseuche und schlechte Ernten waren ständige Begleiter der Menschen in dieser Zeit. Viel Gräuel und noch größeres Leid brachte dann der Siebenjährige Krieg (1756-1763) mit sich.

Eine Möglichkeit dem Elend in der Heimat zu entgehen, bot die Russische Zarin und Deutsche Prinzessin Katharina II., genannt die Große. Am 25. Juli 1763 veröffentlichte der russische Senat das Manifest der Zarin, in dem sie unter anderem auch in Deutschland um Siedler warb. Die Deutschen sollten in Russland die Privilegien genießen, die sie in der Heimat bis dato nicht gekannt hatten: Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Verkehrs- und Amtssprache und eine zinsfreie Starthilfe. Doch vor allem die Steuerfreiheit für die nächsten 30 Jahre schien für viele Aussiedler ein zentraler Grund für die Auswanderung nach Russland gewesen zu sein:

„Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Abgaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten gezwungen, noch Einquartierung zu tragen verbunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer und Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, welche in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher noch unbekannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre; die sich aber in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter der Kaufmannschaft einschreiben wollen, […], haben fünf Frey Jahre zu genießen.“

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass viele Deutschen dem Ruf der Zarin folgten. Auch drei Griedelbacher Familien hatten sich entschlossen, ihr Glück im weiten Russland zu suchen:

Johann Peter Ebert mit Frau und zwei Kindern, Peter Schmidt, ledig und Johann Peter Schwabecher mit Frau, fünf Kindern und Schwiegermutter

Bereits am 3. April 1766 bezeugte Johann Peter Schwabecher (1721-?) sein Interesse, nach Russland ziehen zu wollen. Am 14. April 1766 schrieb der Griedelbacher Schultheiß im Zusammenhang mit den noch ausstehenden Steuerzahlungen dieser Emigranten:

„Das sich nachfolgende Untertanen aus Griedelbach Johann Peter Ebert, Peter Schmidt, Johann Peter Schwobächer gemeldet, welche nach Russland ziehen wollen und sich geäußert, dass die mehrsten davon ihre Vermögens Scheine durch die Schultheißen noch nicht beygebracht haben; als haben die Schultheißen dieses annoch zu bewürken, da bey die wegziehen wollende zu befragen, wie viel sie noch schuldig sind, darüber eine Specification auf zu weisen und selb ge an hero zu schicken, und nicht zu zu lassen, dass einer von ihnen wegziehe, ehe und bevor sie so wohl von Gnädigster Herrschaft den Zehendpfennig, als auch ihre übrigen Schulden bezahlet, wiedrigen falls die Schultheißen zu gewärtigen haben, dass sie zu deren Bezahlung angehalten werden. Und sollen sich diejenigen, welche von den vorbemelten Emigranten noch eine Forderung haben, heut über 8 Tag, als d. 21. ten dieses dahier bey Fürstl. Justiz Cantzley melden, oder gewärtigen, dass sie ihrer Forderung verlustig seyen; die Schultheißen haben dennoch diesen Befehl bei ihren Gemeinden zu publicieren, und wie solches geschehen, hierunter zu notieren, der letzteren aber selbiges unterschrieben wieder zurück zu geben. Braunfelß d. 14. ten April 1766.“
Urkunde vom 20. April 1766

Sicherlich fiel ihm die Entscheidung auszuwandern nicht leicht. Er musste alles aufgeben und zurücklassen, der Weg nach Russland war lang und ungewiss und er hatte eine siebenköpfige Familie zu versorgen. Vor allem war ihm sicherlich bewusst, dass er seine Heimat nie wiedersehen würde. Er war gewiss kein Abenteurer, lediglich ein Familienvater, der seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen wollte und dafür bereit war, jeden Preis zu zahlen.

Johann Peter Ebert verließ mit seiner Familie bereits am 15. April 1766 als erster Griedelbacher die Solmser Heimat in Richtung Russland. Der Griedelbacher Schultheiß Stahl gab die Zweifel von Johann Peter Schwabecher am 20. April 1766 wieder:

„Johann Peter Schwabächer steht noch in einem Zwiespalt und man weiß noch nicht wie es mit ihm kommt. Sollte er aber noch fort ziehen so machen Sein Schulden nicht viel auß und Seyn gut auch nicht Viel, doch wird ich doch vor das Herrschaftsgeld sorgen. Geschehen Griedelbach 20. ten April 1766. Schultheiß Stahl.“
Dorfkirche von Griedelbach

Kurz darauf dürfte auch Johann Peter  Schwabecher mit seiner Familie Griedelbach verlassen haben, da über ihn keine Nachrichten mehr existieren. In Griedelbach hinterließ er seine Schwester Anna Barbara, sowie seine zwei Nichten Anna Margaretha und Anna Goitha.

Insgesamt zogen bis 1770 ca. 30.000 Deutsche nach Russland, die meisten davon kamen aus dem hessisch-nassauischen Raum. Die Kolonisten gingen auf dem Landweg nach Lübeck und wurden dort eingeschifft, um auf dem Seeweg nach Oranienbaum bei St. Petersburg gebracht zu werden. Von dort aus ging die Reise entweder zu Fuß an die Wolga oder auf dem Wasserweg über Nowgorod in die jeweiligen Siedlungsgebiete. Tausende überlebten die Strapazen, den Hunger und die Krankheiten während der langen Reise nicht. Allein in den Jahren 1766-1767 sollten 7.501 Deutsche an die Wolga gebracht werden. 1.264 (17%) davon starben auf dem Weg, einige wurden vermisst und Kranke mussten zurückgelassen werden.

Urkunde vom 15. September 1766

Sechs Monate nachdem es von Johann Peter in Griedelbach letzte Kunde gab, wird er, Johann Peter Schwabecher, ein Reformierter, mit der Ehefrau Elisabetha Christina Frembd, fünf Kindern und seiner Schwiegermutter am 15. September 1766 unter den Nummern 994, 995, 996, 997, 998, 999 auf russischem Boden in Oranienbaum registriert.

Weiter ging es für Johann Peter vermutlich auf dem Wasserweg nach Saratow, wo er nach fast zehn Monaten, Mitte Juli 1767, registriert wurde. Doch nicht alle Schwabechers sind dort angekommen. Auf dem Weg verschwand sein fast 11 jähriger Sohn Johann Mathias spurlos. Seine Frau und seine Schwiegermutter erlagen kurz nach der Ankunft in Saratow den Strapazen und starben vermutlich Ende Juli 1767. Auf dem Weg in die Kolonie heiratete er Catharina Diel, deren Mann ebenfalls auf dem Weg an die Wolga verstorben war und ihr einen minderjährigen Sohn hinterlassen hatte.

Am 3. August 1767, nach fast 16 Monaten, erreichte die Griedelbacher Familie Schwabecher endlich ihr Reiseziel an der Wolga: die Kolonie Ernestinendorf.

Doch die Hoffnungen der deutschen Kolonisten wurden alsbald enttäuscht. Das „Gelobte Land“ hatten sie sich gänzlich anders vorgestellt. Ein Kolonist erinnert sich:

„Unser Führer rief halt! Worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war; unsere Verwunderung ging aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, dass wir hier am Ziele unserer Reise wären. Erschrocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildnis zu sehen, welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde, nichts als fast drei Schuh hohes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Roße oder Wagen herabzusteigen, und als das erste allgemeine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man auf allen Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können… Das ist also das Paradies, das uns die russischen Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit trauriger Miene! (…) Es war freilich eine Torheit von uns gewesen, dass wir uns in Russlands unbewohnten Gegenden einen Garten Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzu groß, dafür eine Steppe zu finden, die auch nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirthbaren Gegend nicht die geringste Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch im Verlauf mehrerer Tage keine machen, und doch schien bei dem nicht mehr fernen Winter; Eile nötig zu sein.“ (Hier und weiter zitiert nach: Schippan, Michael und Striegnitz, Sonja: Wolgadeutsche. Geschichte und Gegenwart. – Dietz Verl., Berlin 1992 sowie Bildungsverein für Volkskunde in Deutschland DIE LINDE e. V., <http://www.russlanddeutschegeschichte.de/Inhaltsverzeichnis.htm>)
Urkunde vom 3. August 1767

Die Kolonisten machten sich also an die Arbeit. Bereits 1769 wurden an der Wolga 104 deutsche Kolonien gegründet. Doch die ersten Jahre waren äußerst beschwerlich. Es gab weder Häuser noch Baumaterial oder Werkzeuge. Den ersten Winter verbrachten die Mehrheit der Kolonisten in den Zelten und Erdhäusern. Erst im Sommer 1768 konnten die ersten Häuser gebaut werden. Die klimatischen Bedingungen und Bodeneigenschaften, welche sich deutlich von denen in Deutschland unterschieden, sorgten für schlechte Ernten und Armut. Krankheiten und Überfälle nomadischer Stämme vervollständigten das Bild des Elends der ersten Jahre an der Wolga.

Dorf Näb (Foto K. K. Loor)

Auch die Familie Schwabecher hatte Schwierigkeiten, sich in der neuen Heimat zurecht zu finden. Noch ca. 20 Jahre lang wanderten sie an der Wolga von einer Kolonie zur nächsten. Erst im August 1767 in der Kolonie Ernestinendorf angekommen, zieht Johann Peter mit seiner Familie bereits im Frühjahr 1768 weiter in die Kolonie Biberstein (Glarus). Seitdem weiß man von ihm nichts mehr. Sein Sohn Johannes Schwabecher, 1753 in Griedelbach geboren, zieht wenige Jahre später weiter in die Kolonie Paulskoje und 1798 in die Kolonie Näb, wo er und seine Familie sich endgültig niederlassen und ihre Existenz aufbauen. Bereits im Jahre 1798 besaß Johannes Schwabecher 5 Pferde, 7 Kühe, 17 Schafe, 3 Schweine und 14 Hühner. Im Laufe der Jahrzehnte brachte es die Familie zu Wohlstand. Bis 1941, fast 140 Jahre, blieb Näb der Heimatort der Griedelbacher Familie Schwabecher an der Wolga. Insgesamt wurden in Russland sieben Generationen der Familie Schwabecher geboren.

Karl Schwabecher (1888) in russischer Uniform ca. 1915 (links)

In der ersten Hälfte des 19. Jh. brachten es die deutschen Kolonisten an der Wolga vermehrt zum Wohlstand. Doch das Kolonistenglück dauerte nicht lange. Die deutsch-russischen Beziehungen hatten im Laufe der Jahrhunderte immer Auswirkungen auf die deutschen Kolonien an der Wolga gehabt. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871, die deutsche Außenpolitik sowie der wachsende Wohlstand der deutschen Kolonisten an der Wolga selbst führten dazu, dass bis 1881 alle katharinischen Privilegien abgeschafft wurden. Russland führte eine tiefgreifende Russifizierungspolitik gegenüber den Kolonisten durch. Doch erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschlechterte sich die Situation der Wolgadeutschen abrupt. Bereits im August 1914 wurde der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit verboten. 1915 wurden 120.000 deutsche Kolonisten aus den westlichen Gebieten Russlands nach Sibirien deportiert, die deutschen Zeitungsverlage wurden geschlossen und Bücher in deutscher Sprache nicht mehr gedruckt. In den Jahren 1914/1915 kam es zu zahlreichen antideutschen Pogromen. Im Februar 1917 wurde von der russischen Regierung die Enteignung und der Zwangsverkauf des Grund und Bodens der deutschen Wolgakolonisten beschlossen. Nur die Februarrevolution 1917 in Russland konnte gerade noch die Katastrophe verhindern.

Die goldene Hauptlinie

Hauptstraße in Näb (Foto Je. Moschkow 2010)

Von der Geschichte und den Lebensumständen der Familie Schwabecher in der Zeit ist nur wenig bekannt. Unsere Großeltern, soweit sie die späteren Zwangsarbeitslager in Sibirien überlebt haben, erinnerten sich an den Wohlstand der Familie. Nichtdestotrotz dachte die gesamte Familie damals intensiv darüber nach, in die USA auszuwandern. Sie sammelten Geld und schickten Alexander Schwabecher (1886-1971) und seinen Vetter Johannes Schwabecher (1899-1986) 1911 in die Vereinigten Staaten, um die dortigen Lebensbedingungen zu erkunden. Johannes Schwabecher heiratete und bleibt in München, wo seine Nachfahren bis heute noch immer wohnhaft sind. Alexander schaffte es in die USA, doch schrieb alsbald zurück, dass die Lebensbedingungen an der Wolga viel besser seien als in Amerika und dass die Schwabechers in Russland bleiben sollten. Da er keine finanziellen Mittel mehr für die Rückkehr hatte, blieb auch er für immer der Heimat an der Wolga fern. Seine Nachfahren leben noch heute in Kalifornien.

Johann Christian II Schwabecher (1879-1929) im russischen Militärkrankenhaus ca. 1915 (sitzend rechts)

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden mehrere Familienmitglieder zum russischen Militär eingezogen, u.a.:  Johann Christian Schwabecher (1879-1929) sowie sein Vetter Karl Schwabecher (1888).

In den Jahren 1921/1922 kommt die nächste Katastrophe über die deutschen Kolonien an der Wolga und ganz Russland. Missernten um die Zeit waren für eine schreckliche Hungersnot im gesamten Russland verantwortlich und kosteten dort ca. fünf Millionen Menschen das Leben. 120.000 davon waren Russlanddeutsche. Um dem Hunger zu entkommen, fliehen im Jahre 1921 die Gebrüder Karl (1903-1975) und Alexander (1899-1966) Schwabecher mit ihrer Schwägerin über Moskau und Polen nach Deutschland, wo ihre Urenkel noch heute leben.

Der Fleiß der deutschen Kolonisten, ihr Glaube und Überlebenswille waren ausschlaggebend dafür, dass bereits vier Jahre nach der Hungersnot sich die Landwirtschaft in den Kolonien so weit erholt hatte, dass die Wolgarepublik die größten Getreideüberschüsse in der gesamten Sowjetunion verzeichnen konnte.

Schule in Näb. Foto Je. Moschkow 2010

Doch das Glück war nie ein konstanter Begleiter der Wolgadeutschen. Die Dürrekatastrophe, Zwangskollektivierung, Enteignung der wohlhabenden Bauern und deren Deportation in die Gulags führten zum erneuten Hunger an der Wolga in den Jahren 1932/1933. Die Auswirkung auf die deutschen Kolonisten im gesamten Russland waren verheerend: 350.000 Russlanddeutsche starben. Die Schwabechers wurden als wohlhabende Landwirte enteignet, mehrere wurden nach Kasachstan deportiert. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 28. August 1941 den Erlass “Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen”.

“Falls aber auf Anweisung aus Deutschland die deutschen Diversanten und Spione in der Republik der Wolgadeutschen oder in den angrenzen­den Rayons Diversionsakte ausführen werden und Blut vergossen wird, wird die Sowjetregierung laut den Gesetzen der Kriegszeit vor die Notwendigkeit gestellt, Strafmaßnahmen gegenüber der gesamten deutschen Wolgabevölkerung zu ergreifen. 

Zwecks Vorbeugung dieser unerwünschten Erscheinungen und um kein ernstes Blutvergießen zuzulassen, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig gefunden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnende Bevölkerung in andere Rayons zu über­siedeln, wobei den Überzusiedelnden Land zuzuteilen und eine staatliche Hilfe für die Einrichtung in den neuen Rayons zu erweisen ist. Zwecks Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons des Nowosibirsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Kasachstans und andere Nachbarortschaften bestimmt. 

In Übereinstimmung mit diesem wurde dem Staatlichen Komitee für Landesverteidigung vorgeschlagen, die Übersiedlung der gesamten Wolgadeutschen unverzüglich auszuführen und die Überzusiedelnden Wolgadeutschen mit Land und Nutzländereien in den neuen Rayons sicherzustellen.
Erlass vom 28. August 1941

Schon am 29. August wussten die Wolgadeutschen, dass sie deportiert werden sollen. Die Familie Schwabecher schrieb verzweifelt an Johannes Schwabecher in Deutschland, der dort seit 1911 lebte: „Wir werden deportiert! Lebet wohl!“. Zwischen dem 3. und dem 20. September wurden 365.800 Wolgadeutsche nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Die Wolgadeutsche Republik wurde am 7. September 1941 aufgelöst.

Bereits in der Nacht zum 3. September 1941 kamen die Soldaten des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) nach Näb. Zwei Stunden bekamen die Schwabechers, um 30 kg Gepäck pro Familie zu packen. Ein paar Kleidungsstücke, ein wenig Essen, eine Bibel und wenige Familienfotos wurden mitgenommen. Alles Weitere musste zurückgelassen werden. In Engels wurden die Schwabechers in verschiedene Güterwaggons gesperrt und über Kasachstan nach Sibirien deportiert. Erst nach fast 3.000 km hielt der Zug zum ersten Mal in Almaty, Kasachstan, und die Menschen bekamen zum ersten Mal frisches Wasser zum Trinken. In Almaty wurden die hinteren Waggons vom Zug abgetrennt. Die ersten Deportierten blieben in Kasachstan. Beim nächsten Halt in Semipalatinsk wurden weitere Waggons mit Umgesiedelten zurückgelassen. Dies geschah ebenfalls im Altaigebiet sowie bei jedem weiteren Halt des Zuges. Der Hauptzug fuhr weiter in Richtung Norden.

So wurde die Großfamilie Schwabecher auseinandergerissen und lebte in den nächsten Jahrzehnten zerstreut über Kasachstan und Sibirien ohne zu wissen, was mit dem Rest der Familie geschehen war. Johann Schwabecher, der Sohn von Johann Christian, hatte Glück. In den Waggons, die im Altaigebiet am 21. September 1941 abgetrennt wurden, waren auch seine Brüder Heinrich (1907-1972), Hermann (1905-1942) und Johannes (1921-1942) mit ihren Familien sowie seine Mutter Sophie geb. Schäffer (1882-1951). Von der Mehrheit der Familie haben sie nie wieder etwas gehört.

Die Personalakte Johanns Schwabecher (1910-1979) aus dem Jahre 1948. KGB-Archiv, Barnaul, Altaigebiet.

Johann, Heinrich, Hermann und Johannes Schwabecher kamen nach einer fast zwanzigtägigen Reise von der Wolga mit ihren Familien in das russische Dorf Malinowka im Altai an, wo sie zum Glück eine kleine Behausung bekommen haben. Die anderen Schwabechers wurden mitten im sibirischen Winter mit ihren Kindern nur mit einem Spaten ausgestattet in der Steppe ausgesetzt und mussten sich zunächst eine Behausung graben. Tausende haben die Folgen der Deportation nicht überlebt.

Johann Schwabecher und seinen Brüder Heinrich, Hermann und Johannes blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, sich in Sibirien eine neue Existenz aufzubauen. Es war allen bewusst, dass sie ihr Zuhause an der Wolga nie wiedersehen werden. Doch es konnte niemand ahnen, dass durch den Befehl des staatlichen Verteidigungskomitees vom 10. Januar 1942 alle deutschen Männer wie Frauen im Alter zwischen 15 und 55 in Zwangsarbeitslager geschickt werden würden. Innerhalb von wenigen Stunden wurden Johann, Heinrich, Hermann und Johannes verhaftet und in das ca. 2.500 km entfernte Zwangsarbeitslager Kotlas deportiert. Ihre Frauen wurden wenige Tage später verhaftet. Die Kinder blieben Zuhause mit Großmutter Sophie. Erst nach Jahren wurden Johann und Heinrich Schwabecher sowie ihre Frauen freigelassen. Hermann und seine Ehefrau sowie Johannes starben jedoch auf Grund der unmenschlichen Bedingungen im Arbeitslager. Auch Tausende Wolgadeutsche haben dies mit ihrem Leben bezahlt.

Meldeliste von Johann Schwabecher aus dem Jahr 1950

Doch selbst als sie aus den Zwangslagern entlassen worden waren und zu ihren Familien zurückkehren durften, wohnten sie in Sondersiedlungen unter dem Kommandaturregime. Jeden Monat am 15. mussten sie mit der gesamten Familie 50 km in das nächstliegende Rayonzentrum fahren, um sich dort bei der Staatspolizei zu melden. So wurde sichergestellt, dass die deutschen Kolonisten unter ständiger Angst und Kontrolle ihre Sondersiedlungsgebiete nicht verlassen würden. Außerdem mussten alle Deutschen eine amtliche Verpflichtung unterschreiben:

„Mir, dem Zwangsumgesiedelten Johann Schwabecher, Sohn des Johann Christian, geboren 1911, wohnhaft in der Kolchose Nowyj Mir (Malinowka), Alejsk-Rayon wurde der Ukaz des Obersten Sowjet vom 26. November 1948 bekannt gegeben, wonach ich für immer in die Sondersiedlung verbannt wurde, ohne das Recht in meinen vormaligen Wohnort zurückkehren zu dürfen. Für Flucht oder Verlassen der Sondersiedlung werde ich zu 20 Jahren Arbeitslager verurteilt. 24. Dezember 1948.“
Urkunde vom 24. Dezember 1948

Erst im Dezember 1955, nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau zur Befreiung der letzten deutschen Kriegsgefangenen und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland, volle 14 Jahre nach der Deportation von der Wolga, wurden das Kommandantur- und Sondersiedlungsregime über die Wolgadeutschen aufgehoben. Doch ihre alten Kolonien, die Heimat an der Wolga, werden sie nie wieder sehen, denn die Rückkehr an die Wolga wurde unter Strafe gestellt:

„Mir, Johann Schwabecher, Sohn des Johann Christian, geboren 1911, wurde am 2. Februar 1956 bekannt gegeben und erklärt, dass ich vom Sondersiedlungsregime befreit bin und in jedem Ort des Landes wohnen darf. Davon ausgenommen ist mein bisheriger Gebiet vor der Zwangsumsiedlung. Dort verbliebenes und enteignetes Hab und Gut wird mir nicht zurückgegeben. 2. Februar 1956.“
Urkunde vom 2. Februar 1956

Die überwiegende Mehrheit der Wolgadeutschen blieb jedoch in den Sondersiedlungsgebieten wohnen. So auch die Schwabechers. Doch als Deutsche konnten sie kaum mehr leben. Als solche wurden sie oft diskriminiert und benachteiligt. Aufgrund der Deportation und Verfolgung, der Erniedrigung und Diskriminierung haben die Großeltern versucht, ihre Kinder und Enkelkinder von der Geschichte der Familie, der deutschen Kultur und Religion abzuschirmen. Zu tief saß der Schmerz, den man den Kindern ersparen wollte. So kam es dazu, dass nur wenig Deutsch zu Hause gesprochen wurde, dass die Jüngeren von den Gottesdiensten bewusst ausgeschlossen wurden und ihnen nichts über die Geschehnisse der letzten 40 Jahre erzählt wurde.

Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte haben die Wolgadeutschen mehrmals vergeblich die politische Forderung nach einer Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen erhoben. Im Januar 1992 hat Präsident Boris Jelzin der Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik eine endgültige Absage erteilt. Zynisch bot er dafür das älteste militärische Raketentestgelände Russlands „Kapustin Jar“ als Siedlungsgebiet an. Die Vergiftung der Böden macht die Landwirtschaft dort unmöglich, die Gegend unbewohnbar und gesundheitlich äußerst gefährlich. Spätestens 1992 wurde der Mehrheit der Wolgadeutschen bewusst, dass sie in Russland keine Zukunft mehr haben. Die fortschreitende kulturelle, soziale und emotionale Assimilation der Wolgadeutschen war nicht mehr aufzuhalten. Viele sahen nur einen Ausweg: die Ausreise nach Deutschland.

In den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts kehrten mehrere Familien der Schwabechers aus den unterschiedlichsten Ecken Russlands und Kasachstans nach Deutschland zurück. Erst hier in Deutschland haben wir uns zum ersten Mal wieder gesehen und neu kennengelernt. So wie unsere Ahnen vor 230 Jahren nach Russland gingen, um dort besser und in Freiheit leben zu können, so gingen wir, deren Nachfahren, nach Deutschland zurück. Es wird allgemein angenommen, dass die Wolgadeutschen nach Deutschland übersiedeln. Doch das stimmt nicht. Wir kehren heim.